Drei Akkorde, ein Kalauer
Ein Abgesang auf die Freiheit, Liebe, Lässigkeit des letzten
Jahrhunderts: Jürgen Kruse inszeniert "True Dylan" von Sam Shepard
am Schauspielhaus Bochum
Musik sei wirklich wichtig, besonders im Theater, hat Sam Shepard
wohl einmal gesagt. So steht es auf jeden Fall im Programmheft der
jüngsten Inszenierung von, natürlich, Jürgen Kruse. Da steht es gut,
denn schließlich ist Kruse der Mann mit den Soundtracks, der
Regisseur, der "Maria Magdalena" mit Bob Dylan unterlegt und den
"Sturm" mit Donovan. Kruse weiß: Das Leiden eines Dänenprinzen mag
manchen Zuschauer emotional unbeteiligt lassen - aber wenn Johnny
Cash dazu singt, werden im Zuschauerhirn Botenstoffe frei. Diesmal
beschallt Kruse nicht Hebbel mit Dylan, sondern Dylan mit Dylan. Er
hat im "Theater unter Tage", der kleinsten Bühne am Schauspielhaus
Bochum, Shepards "True Dylan" inszeniert.
Der Text - zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne - wiegt
leicht: Er ist nicht viel mehr als die Transkription eines fiktiven
Interviews, das ein gewisser Sam mit einem gewissen Bob führt. Sie
unterhalten sich über Songs, Songwriter, Songthemen: über Autos,
Erinnerungen, Frauen im Allgemeinen und Kellnerinnen im Besonderen.
Einem Soundtrack hat dieses Stück nichts entgegenzusetzen. Hier
umspielen die Worte die Musik und nicht umgekehrt. Lucas Gregorowicz
(Bob) und Patrick Heyn (Sam) sprechen die Dialoge mitunter wie die
Ansagen eines redseligen Sängers, bloße Einsprengsel zwischen
Songfragmenten von Dylan, Cohen, Guns N Roses.
Immer wieder hat Kruse dem Theaterkanon mit seinen Methoden
zugesetzt, jetzt setzt er seine Methoden den Blicken aus. Auf der
Bühne paradieren die Sehnsuchtszeichen: Ein unrasierter Lucas
Gregorowicz singt "Shelter From The Storm", und im Hintergrund
erscheinen zarte Geschöpfe, die dem Sommer der Liebe oder zumindest
dem Cast von "The Virgin Suicides" entsprungen sind. Grit Groß hat
die Statistinnen in weiche Sommerkleider gehüllt und Gregorowicz in
Lederhose und Weste. Volker Hintermeier hat den Bühnenhintergrund
mit dem Pazifik ausgemalt. Peter Bandl lässt warme Strahlen in einem
frühen Morgenwinkel auf die Bühne fallen. Genau so haben sie
ausgesehen: Freiheit, Liebe, Lässigkeit, zirka in der zweiten Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts.
Das Problem ist nur - und genau auf die traurige Wahrheit will
Kruse hinaus -, dass irgendetwas fehlt. Zum Beispiel ein
interessanter Gedanke. Sam und Bob reden nur zerstreutes Zeug. Ganz
selten kriegt Bob einen halbwegs kohärenten Rock-n-Roll-Aphorismus
zustande. "Du kannst keinen Fisch fangen, solange du kein Netz
ausgeworfen hast", sagt er einmal, und da greift Sam ganz schnell
zum Notizblock. Aber selbst er begreift irgendwann, dass die
Sinnstiftung heute nicht stattfindet. Die Worte rauschen vorüber.
Bob und Sam kalauern - "Achteinhalb vor Dolce-Vita-Vereinigung"
lautet das Ergebnis der Suche nach einer Jahreszahl -, aber sie
haben nichts zu sagen.
Nur in ein, zwei Momenten hält die Inszenierung inne. Als Bob auf
den Gedanken stößt, dass er nichts mehr zu geben hat, ist es
plötzlich totenstill. Und am Schluss spielt er immer wieder dasselbe
Gitarrenriff: "I cant get no …" Die Sehnsuchtszeichen wirken noch:
Ein paar Songwriter-Akkorde können Einsamkeit in Heldentum
verwandeln. Aber gleichzeitig ist das alles Geschichte. Drei Akkorde
sind noch immer drei Akkorde, aber die Wahrheit rutscht unter ihnen
weg. Die Rock-n-Roll-Theater-Tage am Bochumer Schauspielhaus, als
sich Leander Haußmann in der Kantine mit dem Kollegen Kruse prügelte
- das war im letzten Jahrhundert. Jetzt, unter dem Intendanten
Matthias Hartmann, sind Kruse und sein Soundtrack schwermütige
Gäste.
MORTEN KANSTEINER
taz Nr. 6919 vom 2.12.2002, Seite 15, 120 Zeilen
(Kommentar), MORTEN KANSTEINER, Rezension
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